Wenn die Nacht in Stücke fällt. Ein Brief an Ferdinand Hodler


Foto Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schrift­steller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit ver­­schiede­nen Preisen aus­gezeichnet wurde. Im Limmat Verlag sind elf Bücher in deutscher Übersetzung erschienen, zuletzt «Zehn un­be­­­küm­merte ­Anarchistinnen». Daniel de Roulet lebt in Genf.

Daniel de Roulet

Wenn die Nacht ­in Stücke fällt

Ein Brief an Ferdinand Hodler

Aus dem Französischen von Barbara Traber

Limmat Verlag

Zürich

Lieber Monsieur Hodler

Ich habe beschlossen, Ihnen einen langen Brief zu schreiben, und nehme Ihren hun­dertsten Todestag zum Anlass. Seit einem guten Vierteljahrhundert beschäftige ich mich mit Ihnen. Eine Freundin pflegt zu sagen: «Um kreativ zu sein, muss etwas den Sitz des Denkvermögens einnehmen.» Eines Tages habe ich in Basel das Gemälde entdeckt, das eine Frau, Ihre Geliebte, im Todeskampf zeigt. Valentine richtet ihren flehenden Blick auf Sie. Ihr Gesicht hat schon etwas Leichenhaftes, Sie haben diesem ein grau­sames Grün gegeben. Später habe ich erfahren, dass Sie sie mehrere Hundert Male gemalt und gezeichnet hatten. Sie haben über sie gewacht, sich um sie ge­sorgt, sie geliebt. Sie haben das Fortschreiten ihrer Krankheit auf ihrem Mund, an ihren Händen auf den zerknüllten Leintüchern genau beobachtet. Als das Ende nahte, sind Sie jeden Tag mit Ihrem Malzeug von Genf nach Vevey gefahren. Ich kenne keine ehrlichere Haltung für einen Künstler als diese Hart­nä­ckig­keit, sich einem Leben zu stellen, das aus­ge­löscht wird.