Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz
Zurück im Flachland gibt er Christian Roth einen Geldvorschuss und den Auftrag, noch andere Männer von Lauterbrunnen zu engagieren. Rohrdorf will die Jungfrautour wiederholen. Aber Roth hat Eigenes im Sinn: Mit Rohrdorfs Geld engagiert er sechs Grindelwaldner und führt die Besteigung eigenmächtig durch – ohne Rohrdorf zu benachrichtigen. Selber erreicht Roth den Gipfel nicht, aber die anderen. Sie pflanzen Rohrdorfs 36 Pfund schwere Fahne und behaupten, keine Anzeichen eines früheren Besuchs aufgefunden zu haben. Für diese Besteigung erhalten sie von der Kantonsregierung, welche damals noch Pioniere mit Vorbildcharakter belohnt, je einen Doppeldukaten Prämie.
DIE ERSTE HOCHALPINE KATASTROPHE
Einzig am Mont Blanc, dem höchsten Alpengipfel, bleibt in diesen Jahren das Interesse konstant. Von 1787 bis 1850 wird dieser vergletscherte Riese rund fünfzigmal bestiegen. 1820 ereignet sich hier auch der erste hochalpine Unfall überhaupt. Der russische Wissenschaftler Dr. Joseph Hamel lässt einen Käfig voller Brieftauben hochschleppen, um zu testen, ob diese in der verdünnten Luft fliegen können. Bei diesem weltbewegenden Experiment begleiten ihn ein Genfer Ingenieur und zwei Engländer der Universität Oxford. Unterhalb des Gipfels geraten sie in eine Lawine. Drei der zwölf Führer sterben. Die Tragödie wirkt einerseits abschreckend, andererseits bewirkt sie, dass die Besteigung noch prestigeträchtiger wird. «Sind Sie auf dem Berg gewesen?», sei in Chamonix eine notorische Frage geworden, berichtet ein Engländer. Die Antwort habe über das generelle Ansehen des Gefragten entschieden. Besonders bei den ausländischen Damen.