Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz

EINE BERNER JUNGFRAUFAHRT

Im Sommer 1828 macht sich auch der Zürcher Caspar Rohrdorf, Präparator am naturhistorischen Museum in Bern und Aufseher des Bärengrabens, zur Jungfrau auf. Er meint, er erweise dem Kanton einen Bärendienst, wenn er als erster Mensch von der Berner Seite auf den Gipfel steigt und Kartenmaterial zeichnet. Aber er bleibt ebenfalls auf der Strecke. Wie unwissend und amateurhaft Rohrdorf unterwegs ist, vernimmt man aus seinen Beschreibungen in «Reise über die Grindelwald-Viescher-Gletscher auf den Jungfrau-Gletscher». Mit vier Führern, acht Trägern und zwei Hirten startet er von der Stieregg oberhalb von Grindelwald. Sie biwakieren eine Nacht in der Eigerhöhle und erreichen am nächsten Nachmittag das Mönchsjoch. Rohrdorf als letzter. Er schreibt: «Wir staunten eine Weile; wo ist jetzt die Jungfrau? fragte ich den Führer Christian Roth; das weiss ich nicht, antwortete er; und ich eben so wenig, sagte ich.» Auf dem Hosenboden rutschen sie den Hang hinab und folgen dem Pfad ihrer Begleiter, die vorausgegangen sind. «Als wir sie erreicht hatten, rufte ich, ob nicht dort unten die Jungfrau sey? Ob ich denn das nicht wisse? versetzten sie; ich gab ihnen zur Antwort, wie ich das wissen könnte, ich sey ja so wenig je hier gewesen als sie; jetzt kamen die beyden anderen zurück und Hildebrand Burgener sagte ein wenig hitzig: das da drüben sey die Jungfrau und nicht die untere; die Vernünftigeren suchten ihn zu besänftigen; ich sagte, ich wollte dahin gehen, wo er gewesen sey, dann werde ich wohl so gut als er sehen, ob das die Jungfrau sey oder nicht.» Auf dem Grat zwischen Jungfrau und dem Mönch erkennt Rohrdorf «ganz deutlich» die beiden Silberhörner und in der Tiefe die Wengernalp und den Thunersee. «Ihr habt ganz recht, sagte ich nun Burgener; er aber fieng wieder an zu jammern: jetzt müssen wir alle sterben wie die Mücken, wer will hier eine Nacht auf dem Gletscher aushalten! sterben müssen wir alle, wir kommen heute nicht mehr in die Höhle zurück! Ich sagte, warum habt ihr mir nicht gefolgt, als ich euch befohlen, wenigstens die Decken mitzunehmen, es geschieht euch recht, ich will auch mit euch erfrieren, dann hat Einer was der Andere, und lachte ob diesem Geschwätze; die Hälfte meiner Leute aber glaubte an seine Reden. Ich sagte: wisset ihr was, wer mit mir will, der komme, und wer nicht will, der gehe in die Höhle zurück, bey 12 Grad Wärme wird keiner erfrieren.»