Farinet oder das falsche Geld

Er hatte keine Angst. Denn man mochte ihn gern, und die Dinge mochten ihn auch. Er hatte nicht sein Leintuch in Streifen reißen müssen wie so viele Gefangene, von denen man in den Büchern liest; er hatte ein Seil, ein richtiges, ein Seil aus gutem Hanf, so lang, wie er es brauchte, ungefähr acht Meter. Man mochte ihn gern, man sorgte für ihn. Und er sah, dass auch die Dinge ihn gern hatten; denn gerade als

er nun das Seil mit einem doppelten Knopf am Gitter befestigt hatte, war eine Wolke vor den Mond getreten. Das Ge­fängnis steht oben auf dem Stadthügel, mit seinen hohen, nackten Mauern; man hätte ihn leicht bemerken können, als dunklen Schatten vor der hellen Fassade, wenn der Mond darauf ­schien, aber der scheint jetzt nicht. «Ich will dir nicht im Weg sein», hatte er gesagt und war im selben Augenblick hinter einer dicken schwarzen Wolke verschwunden. Farinet lässt sich hinunter, der Mauer nach, in tiefdunkler Nacht, nicht zu bemerken. Er muss nur dem Seil bis zum Ende folgen, um Boden zu finden. Er dachte nichts mehr, es geht alles sehr rasch. Die Bewegungen, die er machte, schien ein anderer für ihn zu machen; sie folgen einander so schnell, dass er sie nicht einmal wahrnahm. Wie er unten angelangt ist, ma­chen seine Schritte kein Geräusch. Es ist, als wäre er auf dem Grund eines Sodbrunnens, es war der Rundgang, ein kurzer Weg: höchstens fünf Schritte; er macht sie geräuschlos, in tiefster Dunkelheit. Der Mond dort über allen Kirchtürmen von Sion und dem Bischofssitz sagte: «Ich bleibe im Versteck»; und er kommt mit seinen geräuschlosen Schritten zur Umfassungsmauer, fünf oder sechs Meter hoch ist sie, aber er kennt sich aus. Das ist so, wie wenn er Gold suchte, wenn er Gämsen verfolgte, und hinter einer Biegung brach der Weg ab; es ging nicht weiter, es ging nicht zurück, auch hinunter nicht: auf diesen handbreiten Vorsprüngen, denen man folgt, bis sie plötzlich nicht mehr da sind in der Leere, wo man die Kühe sieht zwischen den Beinen hindurch, nicht größer als Marienkäferchen, vierhundert Meter tiefer. Und da (er lachte in sich hinein), da meinen sie, mit ihrem bisschen Mauer halten sie mich auf, und der Große Maurer hat’s nicht gekonnt. Oder fragt doch den italienischen König, Um­berto den Ersten, ihr wisst schon, als der mich behalten woll­­te. Der hatte auch Mauern, und was haben sie ihm genützt? Mit den Fingerspitzen findet er über seinem Kopf eine Ritze; mit den Zehenspitzen findet er eine andere Ritze in der Mauer der Regierung. Er drückt sich an den Stein, so eng er kann, den Arm hinaufgestreckt. Der andere Arm sucht weiter oben, findet auch Halt, und der erste kommt ihm nach; er zieht sich hoch, hilft mit dem Knie nach. So gelangt er auf die Mauer, während Sion schlief; er greift mit dem lin­ken Arm hinüber und legt sich flach auf die Mauer. Geschafft! Der italienische König … Zwei, drei Wörter, immer dieselben, tönten in seinem Kopf, während ein warmer Strom von den Schläfen zu den Ohren floss, laut, aber angenehm jetzt; als ob man ihm Bravo zuriefe. Der italienische König … der italienische König …