Wintertauber Tod. Ein Tanner-Kriminalroman
Der Bahnhofsplatz sah auch bei Schnee öde und verlassen aus. Hingegen übten die jenseits des Bahnhofs liegenden Gebäude auf Tanner stets den gleichen Zauber aus. Es war ein altes Herrschaftshaus, zu dem einer der größten Bauernhöfe des Dorfes gehörte. Der Gemeindepräsident – ein großer, knochiger Mann – und sein Bruder bewirtschafteten diesen Hof als Pächter. Die Herrschaft selbst war nur einmal pro Jahr vor Ort, an Weihnachten, um den Pachtzins einzukassieren, wie die Einheimischen in beinahe ehrfürchtigem Ton erzählten. Sämtliche tiefgrünen Fensterläden des großen Hauses waren also die meiste Zeit verschlossen. Mitunter bekam eine vertraute Person den Auftrag, das Haus zu lüften und zu reinigen. Dann standen für wenige Stunden einzelne Fenster plötzlich weit offen.
Das verschlossene Haus erinnerte ihn an die traurige Novelle über das vermeintlich gemütskranke Mädchen Susanna, das durch seinen Vormund in genau so einem Herrschaftshaus eingesperrt gehalten wurde. Sogar die Läden sollte es immer geschlossen halten, damit niemand ihre Schönheit entdecken konnte – und sie nichts von der Welt. Ein junger Mann hatte trotzdem das Glück, sie zu Gesicht zu bekommen, und die beiden verliebten sich unsterblich ineinander. Sie unterhielten sich jeden Abend im Schutz der Dunkelheit durch einen Schlitz im Fensterladen. Als der junge Mann für längere Zeit in die Hauptstadt fahren musste, gelang dem Mädchen die Flucht, und sie machte sich im tiefen Winter auf, immer der Eisenbahnlinie entlang, die in unmittelbarer Nähe ihres Hauses verlief. Genau wie hier. Der Bahnhofsbeamte hatte nämlich dem unerfahrenen Mädchen im Scherz geraten, wenn sie kein Geld habe und in die Hauptstadt wolle, müsse sie nur den Schienen folgen. Was sie dann auch tat. Nach einem langen Stück Wegs wurde sie müde, legte sich in den Schnee und erfror.