Wintertauber Tod. Ein Tanner-Kriminalroman

Die beiden Frauen waren viel zu früh gekommen und hatten Tanner empfindlich bei den letzten Vorbereitungen in der Küche gestört. Er war gerade beim Herstellen einer eigenen Olivenpasten-Kreation aus schwarzen und grünen Oliven, Walnüssen, Pinienkernen, fein geschnittenem, rohen Fenchel und ebenso feingeschnittenen, getrockneten und ungeschwefelten Aprikosen. Zum Glück hatte er die gebrannte Crème gerade noch fertig bekommen, bevor die beiden kichernden Schwestern ihren Auftritt machten, denn in ihrer Anwesenheit hätte Tanner sich nicht mehr zu der Konzentration befähigt gefühlt, die unabdinglich war, damit eine Crème brûlée gelang.

Und Michel?

Michel erschien tatsächlich mit dem Glockenschlag, und sein Auftritt im geliehenen Smoking – Michel hatte die Aufforderung tatsächlich ernst genommen – war natürlich eine kleine Sensation: Die beiden Damen waren von seiner imposanten Erscheinung und von seinem Charme hingerissen. Vor allem Solène hing entzückt an seinen Lippen, und es schien, als besäße sie die Gabe, seine Inspiration ins Unendliche zu steigern. Bereits nach zwei Flaschen Weißwein und drei Flaschen Rotwein (allesamt vom Weingebiet auf der gegenüberliegenden Seeseite) begann er von seinem glücklichen und ereignisreichen vorherigen Leben als Maharadscha des kleinen Königsstaats Phukhtu in Indien zu berichten. Seine ausufernden Abenteuergeschichten kamen derart bestechend und detailgetreu daher, dass sich selbst Tanner dann und wann dabei ertappte, wie er ihm Glauben schenkte. Michel hatte sich auch in allen anderen Belangen übertroffen, und so übernachtete er in Tanners Wohnzimmer und schlief, die gesamten indischen Wald- und Holzreserven zersägend, seinen gewaltigen Lügenrausch aus. Eine Heimfahrt im Auto wäre einer Kriegserklärung an Land und Leute gleichgekommen. Deswegen konnten die beiden Männer erst am nächsten Morgen ihre beruflichen Probleme erörtern. Das heißt, es sprach vorwiegend Tanner, denn Michels Bewusstsein war zu Beginn des Frühstücks noch stark umnebelt. Die Unterlagen über die seltsamen Todesfälle im städtischen Spital (vorwiegend Männer) hatte er sowieso vergessen. Er habe sich eben um den Smoking kümmern müssen und darüber das Wichtigste vergessen. So die Ausrede. Allerdings lieferte auch das Dorf genug Gesprächsstoff. Am Abend zuvor hatten die beiden Schwestern natürlich immer wieder über die mysteriösen Vorgänge diskutieren wollen, was Tanner und Michel jedoch teils aus Schweigepflicht, teils um die Stimmung nicht zu verderben, abblockten. Jetzt konnten sie endlich ungestört reden.