Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays
Das Klischee
Auch wenn die Heimat des Sursilvans nicht die Schweiz ist, wie bewiesen wurde, könnte er nur schwerlich behaupten, dass er selbst nicht ziemlich schweizerisch sei. Sein Tun und Lassen, seine Denkweise sind ganz und gar die eines Schweizers: nichts riskieren, gesichert und versichert sein, nach einer sicheren Stelle lauern. Er ist loyal, konfliktunfähig, autoritätshörig, provinziell, exakt, liebt Geld, ist korrekt, generell langweilig, ehrenwert, pünktlich, pedantisch, ordentlich, mäht am Samstagmorgen den Rasen, ist frisch geduscht, will ja nicht auffallen, ist neutral, perfekt, beobachtet, aber sagt nichts, behält seine Meinung für sich, lässt die anderen Entscheidungen fällen, ist ängstlich, hat keinen Humor, wartet ab, traut nichts, schaut niemandem direkt in die Augen, will seine Ruhe haben, hat einen Zaun ums Haus, ist Cumuluspunktesammler und Regagönner, zieht nach fürobig den Trainer an.
Die Surselver sind weiter Schweizer in dem Sinne, dass sie keine Einheit bilden. Da sind erstens die Walser, zweitens die Romanen, drittens die niedergelassenen Alemannen, welche nicht bereit sind, sich zu integrieren, viertens die Fremdarbeiter. Wäre Graubünden, von der Bevölkerung und von der Perspektive der Kultur mit seinen verschiedenen Sprachen und der verschiedenen Herkunft der Leute her gesehen, so etwas wie eine Minischweiz, dann wäre die Surselva noch einmal ein Minigraubünden. Das ist wie eine Matrioschka mit Kopftuch, jedes Mal ein bisschen kleiner. In der Schweiz haben wir den kalten Frieden zwischen den Sprachen und den Kulturen, man nennt das «kulturelles Nebeneinander», das heisst: Jeder mischt seine Kultur und ignoriert den Nachbarn. Über den Nachbarn wissen wir nichts und meiden ihn. Das ist typisch schweizerisch, typisch bündnerisch, typisch surselvisch. In diesem Sinne ist der Surselver ein typischer Schweizer und der Schweizer ein typischer Surselver.