Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays

Erzählungen und Essays

Aus dem Rätoromanischen von Renzo Caduff, Michel Decurtins, Elisabeth Peyer, Claudio Spescha, Flurin Spescha und Christina Tuor-Kurth

Limmat Verlag

Zürich

Die Geburt der Geschichten

Es war einmal und es war einmal nicht, eine frühere Zeit, da hängte bei uns niemand Steinbockhörner an die Wand. Das ganze Tier galt als Apotheke. Der hinterletzte seiner Teile wurde verwertet, inklusive Hörner und Fell. Puder und Öle wurden daraus gewonnen. Die Apotheker drückten mit diesen Extrakten Pasten zusammen und machten Salben zum Einreiben und fürchterliche Tinkturen zum Einnehmen, und man erhielt auf diese Weise Qualitäten wie die Standfestigkeit, die Postur, die Potenz, das Profil des Steinbocks.

Das hat sich ein wenig geändert.

In einem echten Bündner Haus wird Ihnen von der Frau Kaffee serviert und vom Hausherrn und Jäger Geschichten – falls er gerne erzählt, sonst erzählen die Tassen. Über diese Eigenart aber später. Es wäre unhöflich, den Kaffee zurückzuweisen. Es wäre unhöflich, den Erzählungen nicht zuzuhören. Sie haben schon längst die ganze Kaffeekanne ausgetrunken und die Erzählungen gehen weiter, und sie würden nie aufhören, wäre nicht der Kaffee ausgegangen und hätten Sie nicht immer und immer wieder betont, Sie dürften nicht zu viel Kaffee trinken. Aber Sie müssen eine zweite Kanne trinken. Man verlangt von den Gästen eine gewisse Höflichkeit, wenn sie schon ins Haus kommen, und diese Höflichkeit bedeutet, mindestens zwei Kannen Kaffee zu leeren und einen guten Teil des Repertoires an Geschichten des Hausherrn oder der Tassen anzuhören, bevor Sie aufstehen und wieder gehen.