Wenn die Nacht in Stücke fällt. Ein Brief an Ferdinand Hodler

Eines Tages haben Sie beschlossen, einen Schritt weiterzugehen. Das fast abge­schlossene Porträt muss­te etwas ruhen. Sie haben sie zum Mittagessen in eine noble­re Brasserie eingeladen, ins Le Commerce, Place du Molard. Madame, haben Sie ge­sagt, während Sie Ihr Glas hoben, ich möchte Sie gerne nackt malen. Ihre Antwort: Ich habe gewusst, Monsieur Hodler, dass das kommen würde, und wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann …

Ich stelle mir vor, dass Sie sich in diesem Mo­ment, als Sie realisiert haben, wie sehr Ihnen die Pariserin am Herzen lag, vielleicht am Hals gekratzt haben, oder Sie sind errötet oder haben die Zehen in den So­cken zusammengekrallt. Beim Abendessen hat Berthe, Ihre Frau, Sie misstrauisch angeschaut: Was beschäftigt meinen kleinen Fer­dinand? Und Sie: Nichts, meine Liebe. Sie haben beide die Suppe schweigend ausge­löffelt.

Am nächsten Morgen haben Sie Ihr Modell gebeten, sich nackt wie zum Schlafen auf dem Bauch auszustrecken. Auf dem mit einem blauen Tuch bedeckten Podest befanden sich die Kurven ihres Rückens, ihres Kreuzes, ihrer Hüften auf der Höhe Ihrer Au­gen. Eine konvexe Linie verbunden mit einer konkaven, geht wieder in eine Konvexe über. Sie haben sie gemalt wie den Horizont des Juras über dem Genfersee. Ein schläfriger Berg, doppelt von Blau umgeben, vom Himmel und vom See. Sie ha­ben nicht nur einen jungen perfekten Körper entdeckt, sondern auch eine Landschaft. Sie hat posiert, ohne sich zu bewegen, drei Stunden, ohne ein Wort zu sagen. Gegen Mittag haben Sie von ihr einen Wangenkuss erwartet. Sie aber war eingeschlafen. Selb­st das metallische Ge­räusch beim Zuschnappen der Pinselschachtel hat sie nicht geweckt. Sie sind zu ihr getreten, wie man sich einem Kind nähert, um das blaue Tuch wegzunehmen, Sie hat sich Ihnen mit einem langen Gähnen zugewandt: Wie spät ist es? Und Sie: Zeit für den Kuss.