Wenn die Nacht in Stücke fällt. Ein Brief an Ferdinand Hodler
Sie ist aufgestanden, um ihr Gesicht zu betrachten, das Sie zu einem perfekten Oval, ähnlich jenem einer Prinzessin von Ravenna, gemacht hatten. Sie hat keinen Kommentar abgegeben, aber Sie mit einer Geste von höchster Kühnheit auf die Wange geküsst. Sie haben lange Ihre Pinsel gereinigt, ohne etwas zu sagen. Sie lächelte Ihnen zu, Sie waren ihr ausgeliefert. Auf Berndeutsch hätten Sie antworten können, aber auf Französisch brachten Sie kein Wort heraus. Schließlich haben Sie wie Ihr Pneumologe gefragt: Wann sieht man sich wieder?
Mehrere Tage hat sich die Szene wiederholt. Sie kam um neun Uhr, nahm bis gegen Mittag ihre Pose ein, ohne sich zu bewegen, erhob sich dann unvermittelt, um einen Kuss auf Ihre linke Wange zu drücken. Sie haben daraus geschlossen, dass dies eine unverbindliche Pariser Gewohnheit war. Nachher luden Sie sie in die nahe Brasserie Universelle mit Blick auf die Rhone ein. Sie war fröhlich, heiter gestimmt, wusste zu jedem Ihrer Pariser Kollegen eine Anekdote zu erzählen. Sie waren von ihrem Wissen fasziniert. Manchmal ging ein Schatten über ihre Augen, zweifellos ihrem Ex-Mann zuzuschreiben.