Wenn die Nacht in Stücke fällt. Ein Brief an Ferdinand Hodler

Das Modell

Ihr zukünftiges Modell hat, aus Paris in Genf eingetroffen, ein Hotel an der Rive droite bezogen. Am Tag darauf hat sie an der Bucht eine Brücke überquert und das Weiß von zwei Schwänen bewundert, die aus Sibirien importiert worden waren. Punkt neun Uhr hat sie sich am vereinbarten Ort, Rue du Rhône 29, eingefunden.

Ausnahmsweise hatten Sie Ordnung gemacht, warteten ungeduldig auf sie. Es kam nicht jeden Tag vor, dass eine so attraktive Frau Ihnen vorschlug, sie zu malen. In Ihrem Antwortbrief hatten Sie einen Tagestarif angegeben, jedoch nicht vorgesehen, ihr die Reise zu bezahlen. Sie hatten gedacht, sie habe Freunde in Genf. Später hat sie Ihnen anvertraut, nur eine große Neugier und der Wunsch nach einem Ta­pe­ten­wechsel hätten sie dazu bewegt.

Sie haben den Morgen damit verbracht, ihr Ge­sicht auswendig zu lernen: eine per­fekte Symmetrie, ein Mund, der einfach nur schön war, hohe, aber weiche Wangen­knochen, hübsche Ohren. Sie hatten sie frontal platziert, mit seitlichem Licht, das ihre winzigen Fältchen zwischen den Augen und über den Lippen bloßlegte. Sie wuss­ten noch nicht, dass diese Partien, wenn Sie die Etappen ihres Leidensweges ma­len würden, Tag für Tag mehr einfallen würden. Sie hat keine Mühe gehabt, sich drei Stunden lang nicht zu bewegen. Plötzlich hat sie gefragt: Darf ich sehen, wie Sie mich angelegt haben?