Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sind gelegentlich Gelehrte zu Forschungszwecken ins Hochgebirge gestiegen. Nicht zum touristischen Vergnügen. Die einheimische Bergbevölkerung meidet die steilen, kalten Geröll- und Eishalden seit jeher. Sie sehen keinen Grund, dort hinaufzusteigen. Wozu auch? Als Bauern sind sie Selbstversorger, müssen schauen, dass sie durch den Winter kommen. Dort oben gibt es für sie nichts zu ernten. Die Menschen glauben gar, in den unzugänglichen Höhen leben Dämonen und Gespenster, die regelmässig Unheil ins Tal bringen. Lawinen, Murgänge, Überschwemmungen. Innert Minuten, so es der Teufel will, ist ein Dorf ausradiert.

Wie aus heiterem Himmel kommen Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich wohlhabende und gebildete Städter, die in diese Stätten des Grauens vordringen wollen. Allen voran suchen unternehmungslustige Engländer mit langen Sommerferien dort den Reiz des Unbekannten. Sie machen die Hochalpen zu ihrem neuen Spielplatz, wo sie unberührte Gipfel und Gletscher «erobern» können. Für sie steht nicht wissenschaftliches Interesse im Vordergrund, sondern sportliche Freizeitbeschäftigung. Kein Gipfel ist ihnen zu hoch oder zu abgelegen, kein Wind zu bissig, kein Abgrund zu grässlich. Zuvor hatten Stürmer, Dränger und Romantiker die schroffen Alpen als Seelenlandschaft entdeckt und besungen, aber nie bestiegen.