Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz
Gleichzeitig beginnt auch die Wissenschaft, die geheimen Schlupfwinkel und verborgenen Einöden der Alpen zu erobern. Eine Welt, «die mehr wundervoll als bequem, mehr schön als nützlich ist».
DIE GEISTLICHEN UND DIE GELEHRTEN
In der Schweiz werden die ersten namhaften Gletscherberge von Geistlichen bestiegen. Unter anderem der Titlis 1739, der Vélan 1779, die Dents du Midi: 1784. Zu den bemerkenswertesten frühen Pionieren gehört Placidus a Spescha (1752 bis 1835). Alleine oder nur von einem Schafhirten oder Diener begleitet, besteigt er eine ganze Serie von Gipfeln als erster: Rheinwaldhorn, Oberalpstock, Piz Cristallina, Urlaun, Uffiern, Terri, Ault, Stoc Grond, Scopi, Muraun, Güferhorn. Er ist Pater im Kloster Disentis, Kartograf, Geograf, Natur- und Sprachenforscher.
Als «geistiger Vater des Alpinismus» geht der vermögende Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure in die Geschichte ein. Am 3. August 1887 steht er auf dem 4810 Meter hohen Mont Blanc, nachdem er 27 Jahre zuvor demjenigen eine hohe Geldsumme versprochen hatte, der eine Route auf den Gipfel findet. Begleitet wird er von seinem Diener, dem «Weg-Finder» Jacques Balmat und siebzehn Trägern. Sie schleppen Saussures «physikalische Werkzeuge und alle nöthigen Geräthe». Dazu gehören auch seine persönlichen Gegenstände wie Sonnenschirm, Zelt, Klappbett mit Matratze, Betttücher, Decken, zwei Überröcke, drei Jacken, drei Westen, sechs Hemden, ein weisser und ein Reiseanzug, Stiefel, Gamaschen, ein Paar Schuhe mit grossen und zwei Paar mit kleinen Spitzen, zwei Paar gewöhnliche Schuhe und Pantoffel. Für den mühseligen Aufstieg von Chamonix bis auf den Gipfel brauchen sie drei Tage. Ab den Grands Mulets muss Saussure alle fünfzehn Schritte pausieren, um Atem zu schöpfen. Oben angekommen, fühlt er aufgrund der Höhe «eine leichte Neigung zum Erbrechen». Das mitgebrachte Essen ist gefroren, und die Begleiter, denen die «Dünnigkeit der Luft» ebenfalls zur Last fällt, «bekümmerten sich nicht einmal um den Wein und gebrannte Wasser», schreibt Saussure später in seinem vier Bände umfassenden Werk «Voyages dans les Alpes». «Sie hatten wirklich gefunden, dass die starken Getränke die Unpässlichkeit vermehrten, wahrscheinlich weil sie den schnellen Umlauf des Geblütes noch beschleunigen. Bloss frisches Wasser that gut und war uns angenehm; aber es kostete Zeit und Mühe, Feuer anzumachen, und sonst war keines zu haben.»