Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays
Nicht alle Seen sind gebaut worden, wie sie wollten, die Bosse mit den Zigarren, mit den Mappen, die Herren von Baden. Unsere Schulkarte zeigte einen grossen blauen Fleck mit der Form einer Niere zwischen Pass Diesrut und Passo della Greina. Dieser See wurde nur gezeichnet, nie gebaut. – «Wohin wäre die Staumauer gekommen?», fragt der Fremde den Hirten. «Wo wär do d’Staumur cho?», grüsst der Schweizer den Hirten. Der Einheimische fragt nichts, ihm wäre die Mauer willkommen gewesen, egal an welchem Ort, Hauptsache die Gelder wären gekommen. Kurios, der Sursilvan der Generation meines Vaters ist sonst nicht derjenige, der Seen liebt, er fürchtet das Wasser, latscht nicht mit Schnorchel und Flosse, zeigt nicht gerne die weisse Haut, das Nabelloch mit womöglich einer Fussel drin. Aber in der Ebene der Greina, sagen sie, wäre ein See schön gewesen. Schön ist für den Philosophen, wie wir wissen, «was ohne Interesse wohlgefällt». Aber die Generation meines Vaters war ja interessiert, also musste «schön» für unsere Väter etwas mit dem Gebrauchswert einer Landschaft zu tun haben. Die Niere ist jedenfalls auf dem Papier geblieben, und in den Schädeln. Die Greina hat trotzdem ihren See bekommen. Unterhalb des Terri, dort, wo der Wanderer Gletscher erwartet, wenn er von Canal hinaufsteigt, steht er verblüfft vor einem Riesensee. Dumpf schlagen die Wellen gegen den Fels, Eis schwimmt in grauem Wasser. Der Gletscher ist ein sterbendes Tier. Das Weiss, das Blau des Berges weicht dem Wasser, dem Grau und bald schon dem Grün.