Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays

Im Anfang war der Rauch. Aus ihm sind die Geschichten gekommen. Der Rauch aber kommt bei uns aus den Tassen mit den Geschichten. Die Geschichten aber erwärmen das Gemüt des Menschen, sodass er früher einzig den Steinbock als Apotheke brauchte und heute, wie ich glaube, nur Tigerbalsam in seiner Apotheke bräuchte, eine Gemskugel in seinem Hosensack und Tausendundeine Ge­schichte im Rucksack, «sodass ihn keine Hinterlist mehr treffen kann».

Aus dem Rätoromanischen von Christina Tuor-Kurth

Surselva. Streiflichter

Bei gleicher Umgebung lebt

doch jeder in einer anderen Welt.

Arthur Schopenhauer

Die Wasser

Den Charakter geben dieser Landschaft die Wasser. Ich fantasiere, dass sie die Täler eingefressen haben, vielleicht mit Hilfe der Gletscher, die einmal da waren und mit Zungen die Täler ausfüllten, aber tatsächlich haben die Wasser gefressen, geschichtet, Kerben in die Felsen geschlagen, gespalten, gestemmt. So sind die Täler entstanden. Das wäre, kurz gesagt, schon die Surselva: Täler und Rheine. Die Wasser heissen hier Rheine: Rein da Medel, Rein da Sumvitg, denn rein heisst: «der Fliessende», ein altes vorrömisches Wort. Wenn sie klein sind, nennt der Rätoromane die Rheine einfach aua (Wasser): Aua da Ramosa. Toben sie, sind es darguns, Drachen, die Landschaft und Erde schlucken, die spritzen und schnauben, donnern. Sie ändern ihren Weg, wie sie wollen, dorthin, wo sie der Mensch nicht zwischen behauene Steine gezwängt oder mit Vorbausteinen bezwungen hat – und noch vor diesen Riesensteinen hat der Rhein wenig Respekt, wenn er sich in ein Ungeheuer verwandelt.