Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays
Der grosse Rhein wird alle vierzig bis sechzig Jahre ein Drache: 1888, 1927, 1987. Dann geraten auch die modernen Leute ausser sich. Die Fremden schimpfen, wenn sie auf der Strasse nicht weiterkommen. Die Einheimischen staunen, wenn ihre an Rheine gebauten Häuser überflutet werden. Dass die Alten lediglich Sägen, Stampfen und Mühlen an Wasser bauten, hat der Surselver vergessen wie all seine andern Landsleute.
Die Technik
Die Generation unserer Grossväter hat den Rhein in ein mehr oder weniger definitives Bett gezwungen. Vorher floss er hierhin und dorthin, überflutete Felder und Weiden, liess Steine zurück, Holz, Dreck, Sand. Die Generation unserer Väter hat dem Rhein die Wasser genommen, oder besser gesagt: sie nehmen lassen, für ein, zwei Goldvreneli und schlechte Verträge. (Die Zürcher zahlen für unseren elektrischen Strom weniger als wir. Wir subventionieren Zürich auf unsere Art.) So ist der Rhein heute bezwungen, ein Sklave. Riesige Staumauern, die den Bauch vor dem Betrachter nach innen pressen, spannen die Wasser zusammen, lassen sie nicht in ihr natürliches Bett fliessen. Die Wasser werden geleitet, gepumpt, durch künstliche, fast offizielle Wege gepeitscht: kilometerlange Tunnels sind in die Felsen gesprengt. Oh, wie der Berg beleidigt ist. Ah, wie die Wasser nur mit Widerwillen durch diese dunkelsten Felsröhren gehen, mürrisch, nervös. Sonst so lustig, hier gefangen, brausen sie wütend in die Seen, schäumen. Die künstlichen Seen Curnera, Nalps, Lukmanier, Zervreila fassen die Wasser von Tujetsch, fassen die Wasser von Medel, fassen die Wasser des Adula. Sie geben der Landschaft einen neuen Charakter. Wir waren an die Seen von Laax und Flims, an die Hunderte von alpinen Seelein gewöhnt: Tomasee, Lag Serein, Lag da Laus und wie sie alle genannt werden ihrem Aussehen entsprechend. Unsere neuen Seen, die unsere Väter mit den Italienern, welche sie geholt hatten, bauten, sind das Symbol der Kultur des Betons, Hunderttausender von Kubikmetern Beton. Es ist die Zeit der Geburt von Kies- und Sandwerken am Rhein, grauen Gebäuden, immer in Staub und Lärm gehüllt. Um sie herum Berge von Steinen, von Sand, von Steinchen in allen Grössen, und überall die riesigen Maschinen, die wühlen, schwarzen Rauch auspusten, nach Öl riechen. Es ist die Zeit des Fettes und des Diesels, der grauen, blauen Überkleider, der Kompressoren, der Steinbrecher, der Förderbänder, der Krane, die sich einer neben dem andern am Himmel drehen. Die Zeit, in der man erfunden hat, wie man aus Steinen Gold macht. Die Werke sind Geldgruben geworden. Die Zeit der Lastwagen mit den grossen Lenkrädern und den warmen, nach vorne gereckten Nasen.