Die Wohlanständigen. Ein Tanner-Kriminalroman
Sie nahm die Note und huschte hinter die Theke.
Michel stand auf und zog seinen Mantel an.
Der Rest ist für Sie.
Zum Abschied hob sie die Hand und schenkte ihm ein entzückendes Lächeln.
Die beiden alten Männer waren mittlerweile eingeschlafen. Das selige Lächeln auf ihren Gesichtern war einem tiefernsten Ausdruck gewichen, der den beiden etwas Würdevolles verlieh.
drei
Michel beschloss, zu Fuß zurück zum Strandbad zu gehen. Nach dem exzellenten zweiten Frühstück fand er die Frische des Morgens sehr angenehm und fröstelte nicht mehr. Zufrieden schritt er aus.
In solchen Momenten erfüllte ihn sein Beruf mit einer tiefen Zufriedenheit. Er fühlte sich wie ein Schreiner, der die Aufgabe hatte, einen schönen großen Tisch zu zimmern – und das war das Entscheidende – der genau wusste, wie man das machte. Er kannte und liebte sein Handwerk. Oder wie ein Künstler, der vor einer leeren Leinwand stand, den Pinsel in der Hand und zum ersten Pinselstrich ansetzte.
Er musste schmunzeln.
Auf seinem Bild war bereits ein Toter im Hawaiihemd, im Wasser liegend. Und seine Aufgabe würde nun daraus bestehen, das ganze Bild bis in alle Details fertigzustellen. Innerlich rieb er sich die Hände. Er freute sich auf die Aufgabe. Zudem würde es – je nach Verlauf – bedeuten, viele Tage oder gar einige Wochen nicht nur im Büro sitzen zu müssen und Akten zu wälzen. Da sein Privatleben wieder einmal auf die wenigen Kontakte zu seiner Vermieterin geschrumpft war, die ihn nach wie vor treu jeden Tag mit leckeren Broten versorgte und seine Wohnung reinigte, war ein frischer Toter, noch dazu mit einem Messer im Rücken, eine willkommene Aufgabe. Zudem trieb in den Büros ein neuer Polizeichef sein Unwesen. Erst jetzt kapierten alle, wie pflegeleicht der alte gewesen war, trotz seiner Schrullen. Der neue war einer mit einem von im Namen. Er kam aus einem dieser Uraltgeschlechter der Hauptstadt, dessen Urgroßtante die Alte mit dem Hörrohr gewesen sein soll, die einst mit ihrem Rudel russischer Windhunde durch die Altstadt zu stolzieren pflegte. Außerdem war er Angehöriger dieser furchtbaren Partei, die glaubte, alles besser zu wissen, und für deren Verhalten sich das ganze Land schämen musste. Er hatte nichts, aber gar nichts von den gepflegten Manieren und der seriösen humanistischen Bildung, auf die der Alte so stolz gewesen war. Der Neue hatte zwar studiert, war aber ein Flegel und benahm sich wie einer. Intern nannte man ihn Baron Rumpelstilzchen. Man lachte über ihn, aber die meisten hatten Angst vor ihm.