Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz

VERBOTE, VERHAFTUNGEN, DRACHEN

Aber weder Petrarca noch Gessner dringen bis ins Hochgebirge vor. Es gilt nach wie vor als wertlos. Am meisten Geringschätzung bringen ihm jene entgegen, die ihm am nächsten sind: Die Alpenbewohner. Bei grösster Mühe der Bewirtschaftung bringt der Gebirgsboden nur geringe, oder gar keine Erträge. Zudem verkörpern die unfruchtbaren, dem Menschen gar gefährlichen Stellen des Gebirges seit dem Mittelalter die Wohnstätten höllischer Geister und des Teufels. Diesem Glauben leistet die Kirche offen Vorschub. 1387 stecken die katholischen Behörden der Stadt Luzern sechs Mönche ins Gefängnis und verweisen sie dann des Landes, weil sie auf den mythenumrankten Pilatus wollten. Dessen Besteigung ist bis ins 16. Jahrhundert per Gesetz untersagt. Man glaubt, nur schon eine Annäherung an den Berg und den Bergsee, wo gemäss der Sage angeblich die Leiche von Pontius Pilatus, römischer Statthalter in Jerusalem, versenkt worden sei, bringe schreckliches Unheil. «Grusame, ungestüme wätter und Hagel, windschlegen und anlaufen der bergwasser» wären die Folge. Über hundert Jahre nach den Mönchen, 1518, holt Joachim Vadian, Reformator aus Sankt Gallen, eine offizielle Bewilligung für den Pilatus ein und besteigt den Gipfel. In den gefürchteten See wirft er Steine, worauf sich – oh Wunder – kein Unwetter zusammenbraut. Sowohl die Mönche wie auch Vadian haben die Besteigung des Pilatus in erster Linie aus Protest gegen den Aberglauben und die religiöse Intoleranz dieser Zeit geplant.